„Weniger ist mehr“ – an dieser Devise ist manchmal etwas Wahres dran, mit Sicherheit gilt sie aber in Bezug auf die Temperatur im Bereich der Tieftemperaturphysik und Kryotechnik. Bei Temperaturen weit unterhalb normaler Umgebungsbedingungen zeigen Materialien besondere Eigenschaften. Welche Anwendungsmöglichkeiten sich dadurch für Wissenschaft und Technik eröffnen und was für die Arbeit bei tiefen Temperaturen berücksichtigt werden muss, zeigt dieser Artikel auf.
Was ist Kryotechnik?
Der Begriff Kryotechnik oder Kryogenik leitet sich vom griechischen Wort „kryos“ für Kälte ab und beschreibt den Bereich der extrem tiefen Temperaturen. Da die Temperatur eines Stoffs ein Maß für seine Energie ist, gibt es auch eine niedrigste mögliche Temperatur. Dieser sogenannte absolute Nullpunkt liegt bei -273,15 °C bzw. 0 K, wo die Bewegungsenergie der Teilchen gegen Null geht. Die Kryotechnik umfasst den Bereich von etwa -150 °C bis -273 °C, bei dem Materialien unter diesen extremen Bedingungen hergestellt, gelagert oder verwendet werden. Sie gilt damit als Grundlage für zahlreiche Industriebereiche.
Die Anfänge der Kryotechnik: Verflüssigung von Gasen
So gelang es im Jahr 1877 zunächst den Physikern Louis Cailletet (1832 – 1913) in Frankreich und Raoul Pictet (1846 – 1929) in der Schweiz, Sauerstoff zu verflüssigen, was eine Temperatur von -183 °C erforderte. Der schottische Physikochemiker James Dewar (1842 – 1923) konnte im Jahr 1892 als erster flüssigen Wasserstoff herstellen, der einen Siedepunkt von -253 °C hat. Erfunden wurde dabei der nach ihm benannte Dewar-Behälter, ein vakuumisoliertes Gefäß, in dem die verflüssigten Gase aufbewahrt werden konnten.
Im Jahr 1908 konnte schließlich auch Helium bei einer Temperatur von -269 °C durch den niederländischen Physiker Heike Kamerlingh Onnes (1853 – 1926) verflüssigt werden.
Wie können tiefe Temperaturen erreicht werden?
Kryogene Temperaturen können auf unterschiedliche Arten erzeugt werden. Eine industriell wichtige Methode basiert auf der extrem schnellen Ausdehnung von Gasen und nutzt dabei den Joule-Thomson-Effekt aus.
Technisch kann dies beispielsweise umgesetzt werden, indem das Gas durch eine enge Drosselstelle geleitet wird. Das Phänomen der Abkühlung tritt bei vielen Gasen auf und wird als positiver Joule-Thomson-Effekt beschrieben. Es gibt aber auch bestimmte Gase, die sich bei Ausdehnung erwärmen und somit ein negativer Joule-Thomson-Effekt zu beobachten ist.
Eine weitere Methode zur Erzeugung tiefer Temperaturen ist die Verdunstungskühlung. Hier wird ausgenutzt, dass Moleküle in einer Flüssigkeit eine geringere kinetische Energie aufweisen als im Gas. Wenn die Moleküle verdunsten, erhöht sich also deren Energie. Gleichzeitig verlieren die zurückbleibenden Moleküle an Energie und die Flüssigkeit kühlt entsprechend ab.
Tiefe Temperaturen lassen sich außerdem durch magnetische Kühlung erzeugen. Bei der sogenannten adiabatischen Entmagnetisierung werden paramagnetische Salze eingesetzt, die die Wärme entziehen.
Soll ein Material mithilfe einer kryogenen Flüssigkeit abgekühlt werden, so kann dies auch ganz einfach durch direkten Kontakt unter Ausnutzung der Wärmeleitfähigkeit erreicht werden. Denn ähnlich wie sich Wärme von einem warmen zu einem kalten Objekt überträgt, verhält es sich mit Kälte. Somit lassen sich mit allen beschriebenen Techniken Temperaturen von weit unter -150 °C erreichen.
Was sind typische kryogene Flüssigkeiten?
Zu einer der wichtigsten kryogenen Flüssigkeiten zählt flüssiger Stickstoff, der einen Siedepunkt von -196 °C hat. Als inerter und kostengünstiger Stoff wird er unter anderem in der Medizin, im Laborbetrieb und zur Kühlung von Lebensmitteln und biologischem Material eingesetzt.
Flüssiges Helium ist mit Abstand die kälteste aller kryogenen Flüssigkeiten. Es wird hauptsächlich in der Wissenschaft und für die Kühlung von Supraleitern verwendet. So steht flüssiges Helium oft in Verbindung mit supraleitenden Elektromagneten, die etwa in Magnetresonanztomographen (MRT) oder Kernspinresonanzgeräten (NMR) verbaut sind. Supraleitende Materialien haben die Eigenschaft, unterhalb einer bestimmten Temperatur den Strom ohne jeglichen Widerstand zu leiten. Da diese Sprungtemperaturen extrem niedrig sind, ist eine entsprechende kryogene Kühlung notwendig.
Flüssiger Wasserstoff ist als effizienter Energiespeicher bekannt und wird daher vor allem als Treibstoff in Bereichen wie der Luft- und Raumfahrt verwendet. Hier wird ebenso kryogener Sauerstoff als günstiges Oxidationsmittel eingesetzt.
Luftverflüssigung und kryogene Gastrennung
Die Kryogenik spielt eine wichtige Rolle im Bereich der Gastrennung, wo Gasgemische in ihre Bestandteile aufgetrennt werden. Hier hat sich insbesondere das von Carl von Linde (1842 – 1937) im Jahr 1895 entwickelte Linde-Verfahren zur Verflüssigung von Luft etabliert. Dabei wird das Gemisch aus Stickstoff, Sauerstoff, Kohlendioxid und Spurengasen zunächst komprimiert und erwärmt. Anschließend wird die Luft durch einen Wärmetauscher abgekühlt und über ein Drosselventil in einen Bereich mit geringerem Druck geleitet.
Dadurch expandiert das Gas und kühlt durch den Joule-Thomson-Effekt weiter ab. Nach mehreren solchen Durchläufen ist die Temperatur so niedrig, dass die einzelnen Fraktionen verflüssigt und separiert werden können. Hier werden also die unterschiedlichen Siedepunkte der Gase in der Luft ausgenutzt.
Die kryogene Gastrennung wird speziell bei der Gewinnung von Stickstoff und Sauerstoff für die Industrie sowie zum Aufbereiten und Herstellen von flüssigem Erdgas (LNG) genutzt. Weiterhin lässt sich Kohlendioxid aus Rauchgasen zurückgewinnen, um es danach zu speichern oder in Grundchemikalien umzuwandeln.
Außerhalb der Tieftemperaturtechnik gibt es Verfahren zur Gastrennung, die mit Zentrifugen oder Membranen arbeiten. Viele Gase können entsprechend ihrer Masse, Größe oder Affinität zu bestimmten Oberflächen aufgetrennt werden. Membranverfahren liefern zwar beim Separieren von Sauerstoff und Stickstoff nicht so reine Gase wie beim Linde-Verfahren, sind aber kostengünstiger. Für Anwendungen, bei denen es etwa lediglich darum geht, Sauerstoff anzureichern, werden oft Membranen zur Gastrennung verwendet.
Weitere Anwendungen der Kryotechnik
Neben der kryogenen Gastrennung gibt es weitere Bereiche, bei denen die Kryotechnik entscheidende Funktionen übernimmt. In der Luft- und Raumfahrtindustrie werden Kryo-Kältemaschinen für eine aktive Kühlung im Weltraum eingesetzt. Im metallurgischen Sektor regulieren kryogene Flüssigkeiten die Temperatur in Prozessen mit hoher thermischer Belastung.
Weiterhin werden mithilfe der Kryotechnik Blut von seltenen Blutgruppen, Stammzellen oder auch Viren und Bakterien zu Forschungszwecken konserviert. Große Organe können jedoch bislang nicht für eine längere Aufbewahrung eingefroren werden.
Im Gegensatz zur Kryokonservierung zielt der Einsatz von Kryotechnik in der Chirurgie darauf ab, Gewebe gezielt durch extreme Kälte zu zerstören. Die Kryochirurgie findet entsprechend oft in der Dermatologie Anwendung, wo verschiedene Hautveränderungen wie beispielsweise Hautkrebs und dessen Vorstufen behandelt werden.
Um die in der Kryotechnik benötigten Flüssigkeiten zu transportieren, werden Kryopumpen verwendet. Das sind spezielle Pumpen, deren Bauteile und Dichtungen bei den tiefen Temperaturen nicht spröde werden. Kryopumpen werden vor allem beim Transport von flüssigem Erdgas für Tankstellen oder von technischen Flüssiggasen für die Industrie benötigt. Neben den Kryopumpen gibt es kryogene Vakuumpumpen, die Gase auf einer kryogenen Oberfläche mit Hochvakuum kondensieren lassen und einfangen. Solche Pumpen werden auch Kondensationspumpen genannt.
Und zum Lagern und Aufbewahren beispielsweise von Bioflüssigkeiten bei bis zu -196 °C eignen sich Kryogenröhrchen und spezielle Ständer aus Polypropylen.
Kältebeständigkeit von Materialien
Auch wenn in der Praxis nicht oft bei Temperaturen im kryogenen Bereich gearbeitet wird, so können doch bereits mäßig kalte Temperaturen die eingesetzten Materialien entscheidend verändern. Informationen zur Kältebeständigkeit sind typischerweise in den technischen Datenblättern angegeben. Unterhalb der Gebrauchstemperatur haben Werkstoffe und Bauteile nicht mehr die für den Anwendungszweck notwendigen Eigenschaften. Dabei sind bestimmte Effekte bekannt, die in diesem Temperaturbereich auftreten können.
Kunststoffe können bei zu niedrigen Temperaturen spröde werden, da die Polymerketten erstarren. Insbesondere Elastomere verlieren dabei ihre Elastizität und können dadurch nicht mehr ideal abdichten.
Entsprechend muss bei der Verwendung von Produkten wie Gummimatten, Kunststoffschläuchen, O-Ringen und Dichtungen der beabsichtigte Temperaturbereich beachtet werden. Auch Stähle können bei zu tiefen Temperaturen verspröden, wodurch sie brüchig und instabil werden. Typischerweise werden zur Förderung kryogener Flüssigkeiten, wie flüssigem Stickstoff, tieftemperaturbeständige Werkstoffe, wie Schläuche aus PFA, oder Edelstahl-Ringwellschläuche eingesetzt. Gleiches gilt für Schlauchverbinder aus Kunststoff sowie Schlauchverbinder aus Metallen, die zur Adaptierung solcher Tieftemperaturschläuche eingesetzt werden.
Außerdem können sich Werkstoffe bei Abkühlung zusammenziehen, was ihre Funktion beeinträchtigt. In Systemen mit Materialien unterschiedlicher thermischer Ausdehnung besteht zudem die Gefahr von Spannungen und Rissen. Flüssigkeiten werden oft mit sinkender Temperatur zähflüssiger, was bei Schmierstoffen und Ölen beachtet werden muss.
Außerdem können Flüssigkeiten ausflocken und Filtersysteme und Pumpen verstopfen. Gefrieren Flüssigkeiten, ist dies besonders beim Kühlwasser in Kraftfahrzeugen problematisch. Zugegebene Frostschutzmittel wie etwa Glykole senken den Gefrierpunkt entsprechend ab. Auch elektrische Bauteile funktionieren bei tiefen Temperaturen oft nicht optimal, da sich unter anderem der Widerstand verändert.
Fazit
Die Tieftemperaturtechnik ist in vielen Bereichen relevant. Mit den Konzepten der Tieftemperaturphysik können extrem tiefe Temperaturen erzeugt werden, die insbesondere für die Verflüssigung von Gasen notwendig sind. Auch wenn bei der Arbeit mit tiefen Temperaturen spezielle Anforderungen an die jeweiligen Materialien und Systeme gestellt werden müssen, ist die Kryogenik für Anwendungen wie Gastrennung, Konservierung, Energieversorgung oder Supraleitung essentiell und heute nicht mehr wegzudenken.
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