« Chemiefabrik en miniature »
Eine Chemiefabrik – das sind in der Vorstellung vieler noch immer hohe Türme, riesige Tanks und ein scheinbar endloses Gewirr von Rohrleitungen. Dass es auch kleiner geht, zeigt die Natur – ist doch jede einzelne Zelle eine „Chemiefabrik en miniature“. Aber schaffen das auch findige Chemiker oder Biotechnologen? Vieles hat sich in den letzten Jahren getan auf den Gebieten der Mikroreaktionstechnik, der Mikrosystemtechnik sowie der Mikrofluidik – der Trend geht eindeutig hin zu kleineren und flexibleren Reaktionssystemen. Wie nah wir der Natur inzwischen schon sind, soll im folgenden Beitrag gezeigt werden.
Alles Mikro – von Systemen und Verfahren
Mikrosystemtechnik, Mikroreaktionstechnik und Mikrofluidik sind drei Begriffe, die in diesem Zusammenhang oft genannt werden, aber nicht das gleiche bedeuten.
Die Mikrosystemtechnik (engl.: micro systems technology) als Oberbegriff bezieht sich nicht allein auf Chemie oder Biotechnologie. Vielmehr werden unter diesem Begriff alle Arten von Mikrosystemen subsumiert, bei denen Mikrobauteile, optisch oder mechanisch, auf kleinstem Raum zu einem funktionierenden System integriert werden. Die Mikrochips in unseren Computern und Handys sind ein Beispiel dafür, ein anderes sind die Beschleunigungssensoren in Autos, die beispielsweise einen Aufprall registrieren und direkt den Airbag auslösen.
Das große Potenzial der Mikrosystemtechnik wird heute nicht mehr nur in der Elektro- oder Verkehrstechnik genutzt, sondern auch in Bereichen wie Medizintechnik, Biotechnologie sowie Chemie und Verfahrenstechnik.
Mit der Miniaturisierung ganzer Chemieanlagen befasst sich die Mikroreaktionstechnik. Hier steht tatsächlich die „Chemiefabrik en miniature“ im Mittelpunkt, die unter Nutzung der Kenntnisse aus Mikrosystemtechnologie und Mikrofluidik große Anlagen ablösen soll. Ein einfaches Verkleinern der Komponenten reicht hierbei nicht unbedingt aus – vor allem der Mikroreaktor hat mit einem klassischen Rührkessel nichts mehr gemein, sondern besteht aus Mikrokapillaren, die auf Glas-, Metall-, Kunststoff- oder auch Siliziumträger geätzt sind.
Diese Träger, allgemein als Chips bezeichnet, werden in einer Reihe an Technologien, wie DNA-Chips, Chip-Chromatographie oder Chip-Elektrophorese eingesetzt. Sie werden unter dem Begriff „Lab-on-a-chip“ zusammengefasst.
Alle diese Systeme beruhen auf den Prinzipien der Mikrofluidik. Diese befasst sich mit dem Verhalten von geringen Flüssigkeitsmengen oder Gasen auf engstem Raum und untersucht, wie sich diese in Mikrokapillaren, die nur noch den Durchmesser eines einzelnen Haares haben, verhalten. Denn in diesen Dimensionen wirken andere Kräfte.
So können Fluide passiv mit Hilfe der Kapillarkraft durch kleinste Kanäle transportiert werden, ohne dass die Schwerkraft zum Tragen kommt.
Zweitens herrscht in diesen Kanälen ein sogenannter „Laminar Flow“ – eine laminare Strömung ohne Turbulenzen – was den Vorteil hat, dass sich Flüssigkeiten nicht oder nur sehr schwer untereinander vermischen.
Chemische Verfahren im Kleinen realisieren – von der Theorie in die praktische Umsetzung
Auch in der Chemiefabrik der Zukunft ist der Mikroreaktor immer noch das Herzstück, umgeben von Mischern, Rührern, Pumpen und Sensoren, die modular zusammengebaut werden. In seinem Kapillarsystem laufen unter zu Hilfenahme der Mikrofluidik chemische Reaktionen ab, wobei der „T-Reaktor“ das einfachste System ist. Hier kommt je eine Komponente durch eine der seitlichen Kapillaren des „T“s. Im Verbindungspunkt aller drei Kapillaren des „T“s findet die Reaktion in der nur einige 100 µm großen Reaktionskammer statt. Anschließend verlässt das Produkt die Reaktionskammer über die dritte Kapillare.
Durch geschicktes Auswählen der Kapillarwege sowie der Reaktionskammer können extrem kleine Flüssigkeitsmengen, Mengen im Bereich von Nanolitern, in einem Mikroreaktor so manipuliert werden, dass auch ansonsten schwierig durchzuführende oder neuartige Synthesen möglich sind. Durch Zusammenschalten von mehreren Reaktionskammern erweitern sich die Möglichkeiten der Reaktionsführung.
Welche weiteren Vorteile bringt die Miniaturisierung?
Die chemische Synthese auf extrem kleinen Raum erlaubt aufgrund der schnelleren Diffusion in den Kapillaren auch höhere Prozessgeschwindigkeiten. Gleichzeitig können durch die Verwendung geringer Stoffmengen, die gute Kontrolle der Reaktion und der Reaktionswege sowohl die Selektivität als auch Ausbeute gegenüber klassischen Syntheseprozessen signifikant erhöht werden.
Daneben hat die Miniaturisierung einer Chemiefabrik und die Nutzung der Mikrofluidik weitere Vorteile. In einem Mikroreaktor können Reaktionen ablaufen, die in der klassischen Verfahrenstechnik schwierig bis gar nicht zu realisieren sind. So können stark exotherme Reaktionen in einem Mikroreaktor durchgeführt werden. Der Grund liegt in einem günstigeren Oberflächen-Volumen-Verhältnis, das dazu führt, dass die in einer exothermen Reaktion entstehende Wärme viel leichter abgeführt werden kann. Auch die Arbeit mit hohen Drücken ist in einem Mikroreaktor einfacher zu realisieren, was ebenfalls ganz neue Möglichkeiten für Synthesen eröffnet.
Gleichzeitig sind Reaktionsparameter wie Druck oder Temperatur in einem solch kompakten Mikrosystem viel einfacher zu kontrollieren – was die kleine Chemiefabrik sicherer macht und Kosten spart. Schließlich sind Material- und Energieeinsatz in der Mikroreaktionstechnik minimal, ein nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch bedeutsamer Faktor. Vor allem letzteres ist heute ein nicht mehr zu vernachlässigender Aspekt. Zusätzlich bietet die Mikrofluidik den Vorteil, dass im Durchflussverfahren gearbeitet werden kann, wodurch Flexibilität und Ausbeute erhöht bzw. die Bildung unerwünschter Nebenprodukte unterdrückt werden können.
Geht es auch größer?
Was in der klassischen Chemietechnik als „Scale-up“ gilt, ist in der Mikroreaktionstechnik das „Numbering-up“. Auch „Equaling-up“ ist ein gebräuchlicher Begriff dafür, nicht einen Mikroreaktor zu vergrößern, sondern mehrere Mikroreaktoren einfach nebeneinander zu schalten.
Auf diese Weise können tatsächlich Durchsätze im Industriemaßstab erreicht werden. Sollte auch dies nicht ausreichen, wird analog zur Verfahrenstechnik auf „Miniplant“, in diesem Zusammenhang auch als „Flow-Miniplant“ bezeichnet, umgestellt.
Hat die klassische Chemiefabrik nun ausgedient?
Diesen Eindruck könnte man angesichts der Möglichkeiten gewinnen, die die Mikroreaktionstechnik, Mikrofluidik und die dadurch realisierbaren, miniaturisierten Chemieprozesse bieten. Aber wie bei jeder neuen Technologie gibt es auch hier Bereiche, in der das Alte seinen angestammten Platz behalten sollte.
Beispielsweise gibt es etablierte Verfahren, bei denen sich eine Umstellung nicht lohnt, vor allem, wenn die Reaktionszeiten nicht kurz, sondern eher besonders lang sind. Auch sind Synthesen für Mikrosysteme nicht geeignet, bei denen feste (Neben-)Produkte entstehen, die zum Verstopfen der Kapillarsysteme führen könnten. Schließlich werden völlig neue Synthesewege wohl auch in Zukunft zunächst einmal ganz klassisch im Labor entwickelt werden, bevor dann die Verbesserung im Mikromaßstab vorangetrieben werden kann.
Wohin geht die Reise?
Die moderne Chemie wird ihr Profil in den nächsten Jahren weiter verändern. Nach der Mikro- kommt die Nanotechnologie und man darf gespannt sein, wie klein ein Mikroreaktor noch werden kann. Auch die Digitalisierung und der Trend zu Industrie 4.0 werden weitere Veränderungen mit sich bringen.
Vollautomatisierte und softwaregesteuerte Systeme aus verschiedenen Modulen und Mikroreaktoren sind bereits heute auf dem Markt verfügbar. Damit kann die Herstellung von Feinchemikalien und Pharmaka nach individuellem Kundenwunsch tatsächlich Wirklichkeit werden.
Schließlich verbirgt sich unter dem Schlagwort der „green chemistry“ der Wunsch, eine ressourceneffiziente und möglichst naturverträgliche Chemie zu realisieren.
Hier bietet die Miniaturisierung ein großes Einsparpotential, sowohl an Energie als auch an anderen Ressourcen, und ist in diesem Hinblick eine der wegweisenden Technologien für diesen Forschungs- und Industriebereich. Kombiniert man nun noch Photomikroreaktoren, die als Energiequelle die Sonne nutzen, mit anderen Komponenten der Mikrosystemtechnik, kommt man dem Vorbild der biologischen Zelle als natürliche Chemiefabrik einen großen Schritt näher.